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Reminiszenzen

Im Frühjahr 1948 lernte ich den Maler Thomas Grochowiak kennen. Er wohnte damals noch im Dachgeschoß eines vom Krieg unberührt gebliebenen rustikalen Anwesens im lippischen Holzhausen und rüstete die wenigen Habseligkeiten für die Rückkehr in seine Vaterstadt Recklinghausen. Seine Bilder, deren Reiz ein feines Gespür für naturhafte und auch farbliche Übergänge ausmachte, blickten uns fragend an. Wir empfanden es jedenfalls so und sprachen unablässig von einem geahnten neuen Aufbruch der Kunst. Wir setzten uns auf die kleine Veranda unter der Dachschräge, und steigerten uns allmählich in Begeisterungen. Eine jener wenigen Stunden war angebrochen, in denen sich die eigene Situation inmitten der Zeitsituation plötzlich zu klären scheint und sich eine lustvolle Sicherheit zur Zukunft einstellt. Wir neckten uns gar der Romantik rings, die auch in uns gewesen war und von der wir in dieser Stunde Abschied nahmen.

Auf dem nächtlichen Weg unter den lippischen Sternen berichtete mir Thomas Grochowiak von dem, was in Recklinghausen geschehen sollte. Mit einigen der neu gefundenen Gefährten – Gustav Deppe, Ernst Hermanns, Emil Schumacher, Heinrich Siepmann und Hans Werdehausen – wollte Grochowiak jetzt die Künstlervereinigung »junger westen« gründen. Die Stadt würde den großen Luftschutzbunker gegenüber dem Bahnhof zur Verfügung stellen und im Laufe der Zeit herrichten lassen. Der Quadenturm inmitten der Recklinghauser Altstadt sollte für Thomas Grochowiak und seine Familie Atelier und Wohnung erhalten.

Nun, diese Wohnung entwickelte sich bald zum Diskussionsraum der Künstler vom »jungen westen«. Hier stellten sie sich mit ihren Werken der Kritik der Freunde und Kollegen. Hier erfuhren sie den wichtigsten Zuspruch, die entscheidenden Einwände. Hier freuten sie sich ihrer Erfolge, gestanden sie ihre Niederlagen. Thomas Grochowiak war die gewissenhafte Unruhe der Gruppe, verlässlich als Freund, Förderer und Kollege.

Erwin Sylvanus, 1960



1947, im Herbst, begegneten wir uns zum ersten Male: In der kriegsbeschädigten Etage eines Warenhauses, wo Franz Große Perdekamp nach dem schrecklichen Zusammenbruch in einer ersten Ausstellung die jungen Künstler zwischen Rhein und Weser zu versammeln suchte. Ein Jahr später gab es den »jungen westen«. Die Stadt lud nach der Ausstellungseröffnung und aus Anlass der Gründung zu einem kräftigen Erbseneintopf ein. Wir waren sehr glücklich.

Aber es war nicht einfach zu leben. Diese Jahre danach wird man nicht vergessen: Wir waren allein. Keine Galerie, die sich kümmerte; kein Museum, das uns nahm; ganz selten ein einzelner, der sich zu interessieren schien. Aber unsere Freundschaft! Wir trafen uns, so oft es ging, diskutierten nächtelang, kritisierten offen die mitgebrachten Arbeiten und konnten danach nie schnell genug zurück an die Staffelei: Zu neuen Erkundungen, Einsichten und – Geschlagenheiten.

So nahmen wir uns gegenseitig mit und wurden allmählich stärker in der Einsamkeit, auf uns vertrauend, reifer.

Thomas Grochowiak, 1957



Dieses Jahr steckt voller Ereignisse. Im Januar/Februar gab es die Ausstellung »junger westen« in der Kunsthalle Darmstadt. Dann lädt Wilem Sandberg die Gruppe nach Amsterdam in das Stedelijk Museum ein (»jonge duitse Kunst«, März/Mai). Im Juni sieht man den »jungen westen« im Haus am Waldsee, Berlin, und zu gleicher Zeit, bis zum Juli, zeigt die Kunsthalle Basel »Deutsche Künstler der Gegenwart«, deren Zentrum die Gruppe »junger westen« bildet.

Das also ist der »junge westen« heute.

Thomas Grochowiak, 1957



Franz Große Perdekamp, bis zu seinem Tode der getreue Mentor der Künstlergemeinschaft, versuchte in den Jahren des Anfangs, die Gruppe festzulegen auf eine »bauhaus«-Tradition. Immer erneut wies er auf den westfälischen »bauhaus«-Meister Josef Albers und dessen geometrischen Purismus. Die Künstler vom »jungen westen« wussten, dass sie nachzuholen hatten. Die Arbeitswelt, die sie umgab, schien sie auf ein ingenieurhaftes, objektives Schaffen zu verweisen. Sie wollten das Wesen ihrer Umwelt erkennen und es konstruierend nachvollziehen. In manchen Bildern, die sie damals malten, schien die Individualität aufgehoben.

Erwin Sylvanus, 1960



In dem Werk Thomas Grochowiaks gingen der »technischen« Bilderreihe markante, aber schnell sich ablösende Entwicklungsstufen voraus, in denen der Künstler noch in musikalischen Parallelen und im dinglichen Zueinander des Stillebens Bildsicherungen suchte, obgleich er sich immer tiefer in die künstlerische Auseinandersetzung mit freien Formen hineinspielte. Auch der »Fördermaschinist«, der den Künstler nicht nur vom Gegenstand her als ein Kind des Ruhrgebietes ausweist, gehört in mancher Hinsicht noch dieser Entwicklung an. Das Bild ist im wesentlichen von einer dinglichen Wirklichkeit her organisiert und verzichtet noch nicht auf eine wirklichkeitsbezogene Raumstatistik; es lässt sich nicht umkehren. Das organische Leben wird – wie beispielsweise beim Auge und Ohr des Maschinisten – in abgekürzte ornamentale Formen der technischen Welt umgedeutet. Damit hat Grochowiak das entscheidende Thema seines Werkes angeschlagen. Er versucht, die Formen der uns beherrschenden technischen Welt als künstlerische Form in unser menschliches Leben als legitim hereinzuholen.

Es muss festgehalten werden, dass seine Kunst einen menschlichen Sinn hat, auch wenn in den Bildern der letzten Schaffensperiode der Mensch als solcher nicht mehr in Erscheinung tritt, seine Kunst bleibt auf den Menschen bezogen. Aber so sehr der »Fördermaschinist« dem realen Raum verhaftet bleibt, es ist nicht zu übersehen, dass – wie etwa die Gestalt in die gestaffelten Flächen eingeordnet ist – alle Dinge in ihre Bildfunktion umgedeutet werden. Diese schöpferische Lust der ornamentalen Umdeutung, die in der Folgezeit sein künstlerisches Schaffen beherrscht, wird von bedeutsamen inneren Wandlungen bestimmt. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass jetzt der benennbare Gegenstand bis auf rudimentäre Einzelheiten völlig zurücktritt; aber bedeutungsvoller erscheint mir, dass damit zugleich eine Wandlung von subjektiver zu objektiver Gestaltung eintritt. Das farbige Element wird jetzt nicht nur stofflich neutral, sondern zugleich unpersönlich kühl. Die brennende Farbigkeit seiner früheren Bilder, die scharfen Gelb- und Orangetöne, die ganz Persönliches aussagten, werden abgelöst von einer zwar fein differenzierten, aber nüchternen technisch-objektivierten Farbigkeit.

Franz Große Perdekamp, 1962



Einem Besuch im Frühjahr 1958 in Amsterdam verdankt der Künstler das spontane Glücksgefühl, das ihn nicht täuschen sollte: endlich zur vollen und ganzen Originalität finden zu können, der er sich mit Lust und Eifer entgegen gemalt hatte. Er schlenderte durch den Hafen mit jener absichtslosen Neugier, die überall sieht und fragt. Sie hat den Maler Grochowiak in besonderem Maße immer ausgezeichnet. Er sah, wie Überseekisten gestrichen und beschriftet wurden: mit leuchtender, materialhafter Farbe. Diese Farbe verfügte über die gesuchte Struktur. Diese Farbe ließ sich mischen. Sie war souverän und untertänig. Im Atelier später bewies sie sich herrlich. Sie blieb stoffliche Substanz, dinghaft und eben darum aussagemächtig jenseits von allem Illusionismus. Die gemäße Farbe war für den Maler Grochowiak der Anlass, die dann folgenden Reihen seiner neuen Bilder zu malen, sie war nicht ihre Ursache und nicht ihre Begründung.

Erwin Sylvanus, 1960



Die Welt ist locker geworden. Nach allen Seiten hin hält sie uns früherhin ungeahnte Durchblicke offen: »in« die Materie, durch die Materie, hinter die Materie. Das ist als pure Tatsache wahrlich kein Grund zu kopflosem Optimismus. Aber es kennzeichnet eine vollkommen neue Situation – neuer Gefahren, aber auch neuer Fähigkeiten. Bringt sie den Untergang, birgt sie einen neuen »Modus vivendi«? Die Kunst spürt, sieht und zeigt beides: sie bringt kein Abbild, aber Erkenntnis.

Seit mehr als einem Jahr tasten und zielen alle Bilder Grochowiaks darauf hin, uns das »Durchbrochene« – als Situation – zur Erkenntnis zu machen. Es gibt davon keine eindeutigen Ansichten, seine Bilder umfassen die ganze Komplexheit: sowohl die Bedrohlichkeit schwarzer Wirbel und dunkler quirlender Wolkenbäume wie andererseits die Möglichkeit heiterer Auflichtung. Wird das Schwarz hier vom schwefligen Gelb beiseite gedrängt, so strahlt dort ein silbrig geistreiches Blau hervor. Alles ist in Verwandlung begriffen, zum schlimmen und zum schönen hin. Keines der Bilder behauptet unangemessene Stabilität. Ihre Faszination besteht ganz im Gegenteil darin, dass sie – wie Visionen – über unserem Alltag aufleuchten und weiterziehen

Albert Schulze Vellinghausen, 1959



Das Thema von Grochowiak ist das Zusammenwirken von Ruhe und Bewegung, von geologischer Kristallisation und ortloser Lebendigkeit, von Zeitlosigkeit und Geschichte, von Schicksal und Trotz, von All und Erde, von Stabilität und Revolution. Man wird die beiden Komponenten dieses Themas in seinen Bildern seit 1948 nachweisen können. Sie stehen nicht in Konfrontation miteinander, sondern eben in einem Zusammenwirken. Vielleicht lässt es sich anschaulich machen, wenn wir den Versuch Grochowiaks auch benennen als den Versuch des Zusammenwirkens von östlicher und westlicher Geistigkeit.

Erwin Sylvanus, 1960



Wenn wir rückblickend den künstlerischen Weg Grochowiaks verfolgen, so führt er bemerkenswert kontinuierlich zu den heutigen Arbeiten: Nirgends ein jäher Sprung, kein gewaltsamer Neuansatz. Das ist erstaunlich, weil der Arbeitsrhythmus keineswegs stetig verläuft, sondern sprunghaft, schubweise. Nach manchmal kurzen, oft recht langen Pausen künstlerischen Tuns setzt ein wahrer Schaffensrausch ein und in einem einzigartigen, nicht zu dämmenden Überfließen entlädt sich, was sich in den Zwischenzeiten an Formund Farbgut angestaut hat. Es sind dann meistens die Nächte, lange, einsame Stunden der Ruhe und des Schweigens der Umwelt, in denen die Bilder entstehen. Es liegt kein bestimmter Rhythmus in diesem Auf und Ab, und dem Außenstehenden bleiben Anlass und Triebkraft des Einsetzens und Endens dieser Schaffensperioden verschlossen. Denn Grochowiaks Tätigkeit als Direktor der Städtischen Museen Recklinghausen, sein Doppelberuf also, mag zwar zu dieser periodischen Arbeitsweise beitragen, ist aber nicht deren eigentliche Ursache.

Die Kunsthalle Recklinghausen stand im Zentrum der Auseinandersetzung und der Diskussion um die moderne Kunst. Sie wurde bekannt durch neuartige undoktrinäre Ausstellungen. Ausstellungen, die durch Thema und Gestaltung von der Konvention abwichen, Ausstellungen, die den traditionsbewussten Historiker zunächst schockierten durch den Mut und die scheinbare Unbekümmertheit, mit der hier Kunstwerke aller Zeiten und Länder unmittelbar konfrontiert wurden. Konfrontation jedoch nie aus Sensationslust, sondern immer und in jedem Fall als Dienst am Kunstwerk! Ausstellungen, in denen Grochowiak mit seinem sicheren Instinkt für künstlerische Probleme und Tendenzen jeweils genau die augenblickliche Kunstsituation traf, Ausstellungen, mit denen er durch Frage und Antwort in die Zeit hineinwirkte und wirkt. Durch diese Wirkungsmacht, durch die Tragkraft seiner Ideen – keineswegs allein durch seine vielbewunderte Aktivität – verwirklichte er in Recklinghausen »das lebendige Museum«.

Dr. Anneliese Schröder, 1967



Seit 1956 zielen meine Malaktionen immer wieder dahin, das Schwere zum Schweben zu bringen – Aktivität und Spontaneität, die sich in automatischer Pinselschrift durch Zeichen und vegetative Strich-Bündelungen äußern, mit in sich ruhenden Formen zu spannungsgeladenem Zusammenklang zu führen.

1981/82 haben Aufenthalte in Hongkong und Peking mit deren Überflutung von Schriftzeichen auf öffentlichen Plätzen und in Business-Zentren sowie die unmittelbare Begegnung mit fernöstlicher Kalligraphie in der Erinnerung zu vielfältigen Reflexionen, meditativen Inspirationen und immer noch andauernden Variationen geführt.

Thomas Grochowiak, 1984

Aus dem Katalog:
Retrospektive Thomas Grochowiak
Märkisches Museum der Stadt Witten
2. Dezember 1984–27. Januar 1985