Dr. Anneliese Schröder

Monographie Thomas Grochowiak 1967

Idee und Vollendung – »zwischen ihnen liegt die ganze Leidensgeschichte einer jeglichen Schöpfung« (Claude Roger Marx), zwischen ihnen vollzieht sich das Geheimnis der Bildgeburt. Ob in stiller Zwiesprache mit Leinwand und Farbe oder in heftigem Zweikampf mit der Materie, ob in qualvollem Ringen um die Form oder in beglückender Hingabe an die Eingebung: immer ist Bildwerdung ein Akt einsamer persönlicher Entscheidungen. Aber dennoch ist Kunst nicht nur das Ergebnis dieser einsamen Stunden des Machens und Werdens; sie gewinnt Kraft und Wirkung allein aus dem Grad ihrer Welthaltigkeit, aus dem Maß, mit dem sie Zeitlichkeit, Gegenwart, kurz: unsere Situation interpretiert und in überzeitliche Form setzt. Und insofern ist Kunst »nicht das Ergebnis bohèmehafter Ateliers am Rande der Existenz«, – einer Abgeschiedenheit in elfenbeinernen Türmen –, sondern das Ergebnis einer Aufgeschlossenheit für das Draußen, für das Nahe und Ferne, einer wachen Teilnahme, eines Beteiligtseins an Wirklichkeit.

Es mag mit diesem Engagement des heutigen Künstlers an Wirklichkeit zusammenhängen, dass gerade das Gebiet größter Bevölkerungsdichte, stärkster industrieller Ballung, das Ruhrgebiet – früher künstlerisch absolute Provinz – heute zu einem Zentrum künstlerischer Aktivität geworden ist, einer Aktivität für die Erwin Sylvanus den Begriff »élan ruhr« geprägt hat.

Am Nordrand des Ruhrgebietes, in Recklinghausen, wurde Thomas Grochowiak 1914 als Sohn eines Bergmanns geboren. Grochowiak hat nicht – wie Fritz Winter – selbst unter Tage gearbeitet, aber er ist aufgewachsen inmitten dieser harten Arbeitswelt und seine Kindheitseindrücke wurden bestimmt vom Arbeitsrhythmus des Reviers. Nichts zog ihn zum traditionellen Familienberuf des Bergmanns hin; auch nichts zu der vom Vater, als Knappschaftsältestem, gewünschten Tätigkeit in der Knappschaftsverwaltung, Seine Neigung gehörte den Tieren: Eidechsen, Schildkröten, Nattern und Fischen, die er sich in Aquarien und Terrarien hielt und seine ganze Lust war von klein an das Malen und Zeichnen. Nie traf man ihn ohne Stift oder gar – zum Entsetzen der Mutter! – ohne Zeichenkohle oder Rötel in der Hosentasche. So war es eine glückliche Fügung, die ihn 1932, in der Zeit der schweren Wirtschaftskrise, nach absolviertem Einjährigen, eine Lehrstelle in der Dekorationsabteilung eines Warenhauses finden ließ.

Vom »élan ruhr« war Recklinghausen damals noch völlig unberührt: eine kleine stille Stadt, ohne künstlerische Tradition, ohne kulturellen Ehrgeiz. Und so blieb, was Grochowiak in seiner Freizeit an Bildern und Aquarellen schuf, konventionell – provinziell. Es gab zwar das Museum Folkwang in Essen, ganz in der Nähe von Recklinghausen und leicht zu erreichen und es gab Gespräche und Diskussionen mit den Freunden aus der Werbeabteilung über die moderne Kunst von van Gogh bis zu den Expressionisten; aber in seinen eigenen Arbeiten, Bildern, fand diese Begegnung und Auseinandersetzung – zunächst noch – kaum einen Niederschlag. Auch der Besuch von Abendkursen an der Werkkunstschule Dortmund 1938, während seiner Tätigkeit als Leiter der Werbeabteilung eines dortigen Warenhauses, hatte keinen Einfluss auf Grochowiaks freies künstlerisches Schaffen, wenigstens nicht auf seine »offizielle« Kunst. Aber insgeheim entstanden in den dreißiger Jahren kleine Blätter: Fingerübungen, Farb- und Formerprobungen, Etüden, die in ihrer spielerischen Leichtigkeit, ihrem zarten Lyrismus wie Vorahnungen des Kommenden anmuten, Intermezzi zwischen Landschaften, Stilleben und realistischen Porträts.

Der entscheidende künstlerische Umbruch erfolgte jedoch erst nach 1945. Sechs Jahre Soldatsein hatten Grochowiak aufgeschreckt, umgewühlt. Mit tiefstem Entsetzen sah sich der Mensch und der Künstler in ihm der Grausamkeit und Barbarei gegenübergestellt, zu der Menschen fähig sind. Er hasste den Kommissbetrieb: die Unterjochung der Persönlichkeit, des Individuellen, die Nivellierung zur Masse Mensch, wie er schon vorher die Unterdrückung persönlicher Freiheit durch das Naziregime von seinem Vater hassen gelernt hatte, der zu den Verfolgten dieses Regimes gehörte. Aus der Summe dieser Erfahrungen erwachte Grochowiak zu künstlerischer Freiheit: Abkehr von Tradition und kleinbürgerlicher Konvention; Kunst als Möglichkeit, Welt zu interpretieren mit den individuellsten Mitteln; äußerste Freiheit des Machens, keinen anderen Bindungen unterworfen als formalen Gesetzen.

Grochowiak war nicht allein auf diesem Weg neuer Formerkundung. Er fand Freunde und Weggenossen.

Franz Große Perdekamp hafte Anfang des Krieges die Leitung des Vestischen Museums Recklinghausen übernommen. In verschiedenen Publikationen hat Franz Große Perdekamp, der Lehrer, Dichter und Kunstschriftsteller, die Frage nach dem Beitrag Westfalens zur Kunst des 20. Jahrhunderts gestellt. Obgleich aus der Generation der Expressionisten kommend, verfolgte er mit Interesse die Bestrebungen der jungen Künstler im westfälischen Raum. Er ermutigte und unterstützte sie nach Kräften und wurde vielen von ihnen ein väterlicher Freund. So auch für Thomas Grochowiak, mit dem er auch während des Krieges stets Kontakt gehalten hatte und von dem er 1946 eine Sonderausstellung in Recklinghausen veranstaltete. In einer Ausstellung in Bielefeld sah Grochowiak 1946 zum ersten Mal Bilder von Gustav Deppe und Emil Schumacher. Er erkannte in ihnen Gleichgesinnte und nahm Verbindung mit den beiden Künstlern auf. Aus ersten Begegnungen kam die Lust zu gemeinsamen Unternehmungen. Grochowiak, schon damals initiativ und glückhaft improvisierend, organisierte eine leer stehende Etage in einem Warenhaus und Franz Große Perdekamp lud 1947 zu einer Ausstellung »Junge Künstler zwischen Rhein und Weser« ein. Er ermunterte die jungen Leute, sich zu einer Vereinigung zusammenzuschließen, die bald darauf unter dem Namen »junger westen« gegründet wurde und 1948 ihre erste Gruppenausstellung zeigte. Aus der Vielzahl der Künstler kristallisierte sich eine kleine Gruppe heraus, die in Übereinstimmung ihrer künstlerischen Haltung den Kern der Vereinigung bildete: Die Maler Gustav Deppe, Thomas Grochowiak, Emil Schumacher, Heinrich Siepmann, Hans Werdehausen und der Bildhauer Ernst Hermanns. Der enge Kontakt unter den Freunden vom »jungen westen« vermittelte laufend Anregungen: Impulse wurden empfangen und weitergegeben, in gegenseitiger Kritik und Anerkennung wuchsen sie aneinander. Rückblickend schreibt Grochowiak im Katalog »junger westen 1957« über diese Zeit: »Es war damals nicht einfach, zu leben. Diese Jahre wird man nicht vergessen. Wir waren allein. Keine Galerie, die sich kümmerte; kein Museum, das uns nahm; ganz selten ein einzelner, der sich zu interessieren schien. Aber unsere Freundschaft! Wir trafen uns, so oft es ging, diskutierten nächtelang, kritisierten offen die mitgebrachten Arbeiten und konnten danach nie schnell genug zurück an die Staffelei: zu neuen Erkundungen, Einsichten und – Geschlagenheiten. So nahmen wir uns gegenseitig mit und wurden allmählich stärker in der Einsamkeit, auf uns vertrauend, reifer.«

HAP Grieshaber hat es gesagt – Grochowiak hat alle Zeit danach gehandelt: »Lasst keinen von Euch zurück! Nehmt ihn, unter welchen Mühen auch immer, mit!« Keine Gelegenheit, die er versäumt, keine Mühe, die er gescheut hätte, um für die Freunde Ausstellungsmöglichkeiten zu finden, Verkäufe oder Aufträge zu vermitteln, ihnen Anerkennung und immer breiteren Spielraum für ihre Kunst zu verschaffen. An sich selbst dachte er dabei am wenigsten. Und doch bildet das Oeuvre Grochowiaks einen ganz eigenen, eigenwillig-eigenständigen, bereichernden Klang im Schaffen der Gruppe.

Mit Interpretationen musikalischer Themen begegnet uns der Maler Grochowiak in der ersten Ausstellung »junger westen« 1948. Ein Gefüge von Linien und abstrakten Formen schiebt sich – ein wenig mühsam, noch unerprobt – über die Bildfläche. Gebrochene, schwere Farben, müde und unentschieden. Die ganze Problematik dieses gefühlsbeladenen Tuns: eine Kunstart mit der anderen interpretieren zu wollen, wird hier deutlich. Ein Jahr weiter und – scheinbar – ein Schritt zurück! Zurück, das heißt: zum Gegenstand zurück. Pilze, Kastanien, herbstliches Blattwerk, keimende Zwiebeln, ordnen sich stillebenhaft zueinander – »Erdlebenbilder«. Tiefe, satte: braune, grüne, rote und herbstgelbe Töne, denen etwas von Erdgeruch anhaftet. Weitgehend abstrahierte, stilisierte Naturformen frei über die Bildfläche verteilt. Perspektive und räumlicher Illusionismus, Plastizität der Dingform, das malerische Spiel von Licht und Schatten – einst, zu Beginn des Schaffens so erstrebenswerte Ziele des jungen Künstlers – treten in Wegfall und voll Entschiedenheit wird der erste Schritt getan, zu dem, was E. W. Nay mit der Devise »Malerei ist Flachkunst« proklamiert.

»Konstrukteure der künstlerischen Form« überschreibt Franz Große Perdekamp seine kleine Schrift: Thomas Grochowiak, Bilder 1950–52. Er stellt ihr die Worte von José Ortega y Gasset voran: »Eines der Themen, das man in den nächsten Jahren besonders lebhaft diskutieren wird, ist das vom Sinn, von den Vorteilen, Schäden und Grenzen der Technik.«

Es war Große Perdekamps Überzeugung, dass es die Mission des Künstlers sei: »die technisierte Zeit, die uns noch nicht echter und lebendiger geistiger Besitz geworden ist, in unser Leben einzuordnen... Dieses moderne Lebensgefühl künstlerisch zum Ausdruck (d. h. zum geistigen Erlebnis) zu bringen, von dem sich der moderne Mensch so lange bedroht fühlt, als es ihn nur halb bewusst und als dämonisch Unfassbares in seinem Lebensraum bedrängt.« Und er glaubte, die jungen Künstler müssten sich der »romantischen Gefühligkeit« erwehren durch »klares, kühles Formbewusstsein«. Er wollte sie festlegen auf die Sachlichkeit der Bauhaustradition, auf den konstruktiven Purismus seines Freundes Josef Albers, darauf, »Konstrukteure der Form« zu sein. Diese Vorstellungen und Vorhaltungen des älteren Freundes und Mentors schienen überzeugend und über eine kurze Zeitspanne folgten ihm die »jungen Westler«. Es wird eine Zeitspanne merkwürdiger Einheitlichkeit der künstlerischen Niederschrift, in der die Individualität weitgehend aufgehoben scheint. Auch Grochowiak verfolgt mit Elan diesen aufgezeigten Weg.

Zwischen 1950 und 1953 entstehen seine »industriellen Diagramme«, meist großformatige Ölbilder, in denen er die technisierte Welt, Lebensform und Lebensgefühl des Industrieraums Ruhrgebiet – das er als beispielhaft für unsere ganze Zeit sah – zum Ausdruck bringen will. Streng begrenzte Flächenpläne stoßen aneinander, überschneiden, überlagern sich. Die Farbe bleibt kühl, stofflich neutral, ihrer Materie entkleidet. Balken und fest gefügte Linien durchziehen die Fläche. Unpersönliche Sachlichkeit, wie die der Maschinenwelt. Aber dann springt – elektrischer Funke, der die Motorik in Gang setzt! – überraschend ein freieres, nervöses Linienspiel ins Bild, das kurvt und sich wellt, sich bündelt und wieder vereinzelt. Dynamischer Einbruch in die Stabilität geometrischer Formen!

War auch die geistige Auseinandersetzung mit der industrialisierten und technisierten Welt zunächst Ausgangspunkt für diese Interpretation des Maschinenzeitalters, so war aus der weltanschaulichen Sicht und Aufgabe (– im Sinne Große Perdekamps –) doch bald eine mehr künstlerische Frage geworden. Es hieß auch den Begriff »élan ruhr« – als wache Teilnahme des heutigen Künstlers an Wirklichkeit – missverstehen, wollte man ihn thematisch und missionarisch auf künstlerische Gestaltung des Industrieraumes und geistige Bewältigung des neuen, durch die Technik bedingten Lebensgefühls festlegen. Es hieße Dinglichkeit mit Wirklichkeit, Umwelt mit Welt verwechseln. Formal bedeutete diese Periode der industriellen Sachlichkeit für Grochowiak eine hervorragende Schulung: ein hartes Durchproben, eine Grammatik der Bildgesetzlichkeiten. Es galt das Kräfteverhältnis von passiven und aktiven Farbflächen zu linearen Gerüsten oder zum freien Spiel und Schwingen einer einzelnen Linie zu erkunden; es galt, ein stabiles Bildgerüst mit Dynamik zu erfüllen; es galt, Ruhe und Bewegung im Bild zu vereinen, es ging um das Spannungsverhältnis: Aktion und Verharren. Und damit hatte Grochowiak sein Grundthema gefunden, das sich seither, mehr oder weniger sichtbar werdend, vordergründig oder unterschwellig in seinen Bildern nachweisen lässt, das Thema, das manche seiner Bilder als Titel tragen: Aktion und Verharren. Nicht immer gelingt es Grochowiak in jener Zeit (1950–53) den formalen Grundgedanken mit der notwendigen Selbstverständlichkeit und Souveränität dem Bildganzen einzuschmelzen. Manchmal dringt das Theoretische des Wollens durch, drängt sich die Methodik auf, ragt aus dem Bildgewebe hervor.

1954 verbringt Grochowiak die Sommerferien in Holland und in doppeltem Sinne bedeutet dieser Aufenthalt Loslösung von der Arbeitswelt des Reviers, physisch und und psychisch: Erholung von der Hast des Alltags, tiefes Aufatmen in der frischen Meeresluft nach der Dunstglocke der Industrie und zugleich ein Wiederentdecken der organischen und vegetativen Formenwelt und damit Befreiung von der Ausschließlichkeit industrieller Deutungen und seine Absage, noch länger »Konstrukteur der Form« zu sein. Diese Wiederentdeckung und Wiederaufnahme von Vegetativem, Organischem ins Bild vollzieht sich völlig anders als in der Stillebenreihe der Jahre 1949/50.

Es ist das Strukturelle der Naturformen, das ihn jetzt anzieht, ihr Geprägt- und Gezeichnetsein von Wachstum, Verwitterung und Verwesung: die krustige Oberfläche einer Baumrinde, die Wachstumsknoten des Röhrichts, das Geäder eines Blattes, die Maserung eines Steins. Und aus der Nahsicht, mit der er die Dingwelt neu betrachtet, belebt sich seine Bildfläche mit mikrobischer Struktur und die Farbe gewinnt an Stofflichkeit. Die großen flächigen Farbformen verlieren ihre Neutralität, sie werden aktiv: da durchziehen feine Maserungen, Ton in Ton, die Formkomplexe; die Farbe variiert, changiert, überlagert sich, wechselt von Transparenz zu tief deckend, wirkt samtig weich oder steinhart. Sie variiert auch in der Tonart: zwischen farbig gedeckten gebrochenen Flächen, glühen kleine Inseln ungebrochen leuchtender warmer Töne. Hie und da mögen sich Naturformen, von denen die Anregung ausging, im Bild finden. Im großen und ganzen wächst hier eine Art organischen Lebens herauf, das nicht nach der Natur, sondern wie die Natur entsteht, das parallel zur sichtbaren Welt verläuft. Die Stabilität der industriellen Diagramme hat keinen Bestand vor dem dauernden Wechsel, dem Wandel, der Veränderlichkeit alles organischen Lebens und so gewinnt die Bildwelt Grochowiaks eine neue Lockerheit. Die Konturen verlieren ihre Gradlinigkeit, die Formen splittern auf, bröckeln ab, zeigen tiefe Einbrüche oder weich ausfließende Ränder und gleitende Übergänge. Das Bildformat wird kleiner, intimer. Als Material bevorzugt Grochowiak jetzt die Pastellkreide, die besser als das sämige Öl jene Lockerheit und schwebende Leichtigkeit vermittelt, die er anstrebt. Aber noch dauerte es einige Jahre, bis er ein Material fand, das ihm all das ermöglichen sollte, was ihm vorschwebte. Über diese glückliche Entdeckung, – (war's Zufall, war es Bestimmung? War es das Ergebnis eines Suchens nach einem Material für neue Formideen oder wurde das Material Voraussetzung für diese neue Bildwelt?) – über diese Entdeckung also, schreibt Erwin Sylvanus im Vorwort zum Katalog der Ausstellung »Thomas Grochowiak« (Galerie Gunar, Düsseldorf, 1960): »Einem Besuch im Frühjahr 1958 in Amsterdam verdankt der Künstler das spontane Glücksgefühl, das ihn nicht täuschen sollte: endlich zur vollen und ganzen Originalität finden zu können, der er sich mit Lust und Eifer entgegengemalt hatte. Er schlenderte durch den Hafen mit jener absichtslosen Neugier, die überall sieht und fragt. Sie hat den Maler Grochowiak in besonderem Maße immer ausgezeichnet. Er sah, wie Überseekisten gestrichen und beschriftet wurden: mit leuchtender materialhafter Farbe, und die Arbeiter versicherten, sie halte jahrelang Wasser, Sonne und Winde aus. Bevor Grochowiak den Kramladen für Schiffereibedorf betrat, wusste er bereits, dass er hier finden würde, was er lange gesucht hatte, das Material seiner malerischen Darstellung. Denn diese Farbe verfügte über die gesuchte Struktur. Diese Farbe ließ sich mischen. Sie war souverän und untertänig. Im Atelier später bewies sie sich herrlich. Sie blieb stoffIiche Substanz, dinghaft und eben darum aussagemächtig jenseits von allem Illusionismus. Die gemäße Farbe war für den Maler Grochowiak der Anlass, die dann folgenden Reihen seiner neuen Bilder zu malen, sie war nicht ihre Ursache und nicht ihre Begründung.«

Mit wahrer Besessenheit bemächtigte sich Grochowiak des neuen Materials, das ihn unaufhörlich zu neuen Erkundungen lockte und verführte. Auch hatte sich in den Jahren einer selteneren malerischen Tätigkeit, zwischen 1955 und 1957, so viel Formgut und Farbleben in ihm angesammelt – war er »inwendig so voll Formal –, dass eine Befreiung und Entladung folgen musste. Und so wird verständlich, was nun geschah: in schneller Folge entsteht Bild auf Bild; unaufhaltsam befallen ihn die Ideen und in einem einzigartigen Schaffensrausch quillt und sprudelt es aus ihm hervor. »Es«, das sind jene zahlreichen Bilder, die vom Spätsommer 1958 bis Ende 1959 entstehen; das sind jene Bildfolgen, von denen jede für sich einen geschlossenen Komplex darstellt, die sich aber nahtlos aneinanderreihen, eine folgerichtig und selbstverständlich aus der anderen erwachsend.

Das beginnt 1958 mit der Bildserie »Flächen und Zeichen«. In einer nie zuvor erreichten Reinheit und Klarheit offenbart sich hier das Grundthema Grochowiaks. Das Spannungsverhältnis »Aktion und Verharren« – seit Jahren in seinen Bildern latent enthalten – wird jetzt mit äußerster Konsequenz und einer fast asketischen Konzentration der bildnerischen Mittel in den verschiedensten Variationen durchspielt. Farbige Balken durchziehen in waagerechten Parallelen das obere Bilddrittel. Balken von wechselnder Breite und Länge. Balken verschiedener Farbigkeit: Farbskalen in Moll und in Dur. Ein strahlendes Gelb im Wechsel mit freundlichem Grün, oder der melancholische Dreiklang von nächtlichem Blau, Weinrot und Grün. Ränder verdickter oder verflüchtigender Farbe bilden sich mitunter an den Balkenkanten, deren leichtes, fast unmerkliches An- und Abschwellen dem natürlichen Fluss der führenden Hand folgt. Kaum je stoßen die Balken bis an den Bildrand vor, sie enden meist unvermittelt oder führen auf Millimeter an den Rand heran, ohne ihn zu berühren: Unbefestigt schweben sie, leicht und geheimnisvoll schwerelos, im Raum. Und diesem Komplex der Ruhe, des schwebenden Verharrens, tritt nun im unteren Bildteil geballte Aktivität entgegen. Auf der weißen Leere der Flüche entfaltet sich ein freies Spiel der Linien und Punkte. »Mit leichter Hand«, aber voll Vehemenz, wird der Pinsel in seine linearen Bahnen gelenkt. Linien, die lang und melodisch fließen, dann plötzlich abgelenkt werden und gebogen, gewinkelt« weiterlaufen, Linien, die sich zu Punkten und Flächen verbreitern. Dazwischen kurze, wie hingestoßene Formpartikel, um die der sich sträubende Pinsel Spritzspuren streut. Graphismen, spontan und intuitiv niedergeschrieben mit fügsam folgender schwarzer Tusche; Graphismen, die nirgends entgleiten, sondern in sich Form wahren. Kalligraphische Zeichen, die hinüberweisen in die Ferne Ostasiens; Zeichen, die nicht enträtselt, nicht entziffert werden wollen, deren Gültigkeit allein in ihrer Kalligraphie besteht.

Diese schwarzen Zeichen wachsen in der nun folgenden Bildserie (1958/59) baumhaft an. Sie überziehen die gesamte Bildfläche. Linien verbreitern sich zu massiven Bahnen, schwarze Formpartikel werden zu großen, deckenden Flächen. Ein Gefüge aus ineinander gleitenden Schwarzformen, einem imaginären Rechteck eingeschrieben. Nirgends scharfe Konturen, die welligen Ränder abspritzend, fasernd, verschwimmend, sich auflösend. Die Binnenformen der schwarzen Gerüste, einzeln nicht fassbar, entgleiten dem Blick und schieben sich wie Wolkenbänke vor das farbige Leben hinter dem Schwarz. Hinter? Unter? Zwischen dem Schwarz? Die Frage nach der Dimension bleibt offen, ungeklärt. Diese Farbinseln, die geheimnisvoll leuchtend in den Durchbrüchen auftauchen, zeigen sich von strahlender Intensität oder in zurückhaltend gebrochenen Tönen; sie überlagern sich, bilden neue Mischungen, fließen aus ins Schwarze oder werden vom Schwarz angenagt. Sie korrespondieren – oder kontrastieren – mit den welligen Farbbänken am unteren Bildrand, aus denen die große Schwarzform mühelos, schwerelos erwächst.

Dann wird – in einem neuen Ansatz – die schwarze Verspannung wieder feingliedriger. Engmaschig zieht sich die unregelmäßige Vergitterung zusammen, die nun die Bildfläche randvoll füllt, in über die Ränder hinauszudrängen scheint. Diese Auswärtsbewegung ist ein neues Element in Grochowiaks Schaffen: eine unaufhaltsame Expansivität hat sich der Fläche bemächtigt. Im Bildgrund tritt das Weiß immer mehr zurück. Wo das dichte, unentwirrbare schwarze Geflecht nicht deckt, tritt die Farbe in Aktion. Sie überzieht mit einem in sich variierenden Grundton die Fläche; sie bedeckt sie mit ineinander fließenden verschiedenen Tönen oder sie tritt sporadisch als farbige Insel auf. Und wieder, wie schon in den Wachstumsgebilden der vorangehenden Reihe, verblüfft der Modulationsreichtum, den Grochowiak dem Schwarz zu geben weiß: von verblasenem Grauschwarz über stumpf matte Partien, bis zu tiefschwarzen, emailhaft schimmernden Glanzstellen. Die Spielarten dieser Reihe liegen, außer in der Verschiedenheit der Farbgebung in der bildnerischen Ordnung und Anordnung des Gewebemotivs. Als »Kontaktaufnahme« bewegt es sich in zwei Komplexen aufeinander zu; als »Entfaltung« strebt es von einem zentralen Punkt ausgehend fächerartig auseinander; als »Dickicht« überzieht es undurchdringlich die gesamte Fläche; als »Rhythmus der Zeichen« erscheint es stärker durchbrochen, lockerer, eine Abfolge kalligraphischer Zeichen.

Es folgt dann eine Bildreihe, die ich mit dem Titel eines der ersten Blätter »Hommage à Tiepolo« umschreiben möchte. Formfülle und Formphantasie erinnern an barocke Dekorationen in ihrer glückhaften Mischung von ornamentalen und vegetativen Elementen. Unbändige Lust am üppig Schwellenden, Formen, die sich unter der Hand runden und schweifen; eine blühende, zarttönende Farbigkeit, wie sie die Rokoko-Malerei bevorzugt und ein irrationaler Zug des Entschwebens, Entgleitens, der Unendlichkeit des Raumes suggeriert, – all’ das sind Merkmale dieser »barocken« Bildserie Grochowiaks. Und wie das Rokoko die Muschel als zentrale Ornamentform fand, so sind es hier kreisende Rundformen, blütenhafte Spiralbildungen, Wirbel, die als Konzentrationspunkte in das Formgefüge eingebaut sind und Spannungszentren bilden. Um sie sammelt sich und von ihnen geht alle Bewegung aus. Spritzige, nervös ausfahrende, kurze Strichbündel; aufgerissene, ausgefranste, zerstückelte, hingewischte Farbsplitter. Alles in dauernder Wandlung begriffen: Flächen, die sich bilden wollen, vergehen im Werden; Linien, die zum Schwung ansetzen, verwehen. Die Farbe nimmt teil an diesem Schwebezustand: Zarte Pastelltöne verblassen nach kurzem, heftigem Einsatz, verflüchtigen sich in lichte Nebel. Schwarz löst sich auf, bricht sich zu Grau und liegt als zartwehender Schleier über Türkis und Rosa, den bevorzugten Farbtönen dieser Reihe. Nirgends wird die Farbe deckend, sie bleibt durchlässig transparent. Das Weiß des Grundes gewinnt wieder breiteren Raum, wird aktiv, wird Plattform für den schwebenden Durchzug der Formen.

Seit den frühen frühlingshaften zarten Etüden der dreißiger Jahre tauchen immer wieder in den verschiedensten Schaffensperioden einzelne dieser lyrisch gestimmten Blätter auf. Da gab es 1956 »Salzburger Impressionen«, lockere, gewischte Pastelle. Da gab es zwischen den Bildreihen der Jahre 1958/59 ähnlich heitere Schwebebilder: hellblaue und grüne, oder rosarote und grüne Farbflecken hüpfen über die Fläche, dazwischen treiben schwarze Tupfer und Linien ihr munteres Spiel und dagegen steht als Balance, parallel zum Bildrand, eine Vertikale aus locker hingeschriebenen schwarzen Zeichen von der geheimnisvollen Schönheit einer asiatischen Schriftzeile. Neben diesen unbeschwert fröhlich gestimmten Bildern – »Humoreske« ist der Titel eines Blattes! – gibt es auch zartere, poesievollere, ganz intime Arbeiten. Über die weite weiße Leere der Bildflüche huschen verschwommene Farbformen. Verblasene Farben, zerfließende Ränder. Farbwölkchen von überall und nirgendwo kommend, im Vorüberziehen erhascht; Zeichen steter Veränderlichkeit, eingefangene Momentanität. Dazwischen wieder Graphismen, Kürzel diesmal, Andeutungen, angesetzt und kaum begonnen schon wieder endend. Und dann schließlich noch jene Blätter, in denen das Weiß des Grundes die gemalte Fläche überwiegt, ja, bei denen von »bemalter Fläche« kaum noch die Rede sein kann! Der Pinsel springt über das Blatt, es kaum noch berührend, Spuren von Farbtupfen und Spritzern hinterlassend. Entstofflichte Flugkörper jagen über die Fläche, einzeln in geradlinigen Bahnen oder zu Schwärmen verdichtet. Was zunächst wie Zufall aussehen mag, erweist sich als durchdachte Ordnung, als eine Ökonomie der Mittel, mit der sich Schwerelosigkeit und Schwebefähigkeit – Grundprobleme aller Bilder Grochowiaks – bis zum Äußersten steigern lassen.

Aber Grochowiak sperrt sich auch nicht gegen den Zufall: Farbspritzer, Tropf- oder Fließspuren, ausgelaufene oder ineinander laufende Farben, all jene ungewollten Zufälligkeiten, die sich beim Malen ereignen, können zu neuen Bildgedanken erweitert und ausgebaut werden. Der Künstler hält sich offen für Anregungen, die ihm beim Schaffensprozess zufließen. Kein unangemessenes Festhalten an vorgedachten Bildkompositionen, an geplanten Farben; unaufhörliche Verwandlung des Vorgestellten während der Bildwerdung, wobei ein klares Formbewusstsein laufend den Fortgang überwacht und überprüft. Grochowiak lässt sich nicht unkontrolliert treiben, er nimmt den Zufall zwar als Anregung auf, aber er wird ihm nicht hörig.

Die Zeitspanne von 1961 bis zum Frühjahr 1962 wird vor allem charakterisiert durch zwei Bildgruppen: eine graphische Reihe und eine, in der sich ein Hang zur großen, geschlossenen Form abzeichnet. Es sei hier jedoch mit Nachdruck vermerkt, dass diese Einteilung in Gruppen und Reihen nicht mehr sein soll, als ein Hilfsmittel zur Verständigung; dass diese Schematisierung eine im Grunde unzulässige Simplifizierung bedeutet: Ist doch jedes Kunstwerk einmalig, unwiederbringlich, eine Welt für sich und seine Eingliederung in »Reihen« nur als Notlosung des Beschreibenden zu rechtfertigen. Die »graphische Reihe« beginnt mit einer Anzahl von Druckgraphiken. Ein Zufall hatte Grochowiak zu dieser Technik geführt, eigentlich: hatte ihm diese Technik zugeführt. Denn eines Tages kamen ihm zugleich mit der Einladung zu einer Ausstellung in der Galerie Seide, Hannover, einige Zinkplatten ins Haus mit der Bitte, diese Platten für den geplanten Ausstellungskatalog zu bearbeiten. Dazu eine ebenso kurze, wie vage Gebrauchsanweisung. Damit war die Lust zum Experimentieren geweckt. Diese Lust hatte Grochowiak schon immer ausgezeichnet: Sein Tuschmaterial hat er nach allen Richtungen erprobt, bis es ihm hörig und willfährig wurde und sich lenken ließ wie und wohin er wollte. Er hat es beobachtet und geprüft; er hat es mit Pinsel und Feder, mit dem Handballen oder dem Daumen aufgetragen; er hat es zum Fließen gebracht durch Verdünnung, durch Blasen, durch Anheben und Bewegen des Papierbogens; er hat gelernt, den Fluss der Farbe präzise zu stoppen durch entsprechende Gegenbewegung; er hat ausgewischt, ausgekratzt, ausgewaschen; er hat sein Material liebevoll und brutal behandelt, er ist ihm gefolgt und er hat es vergewaltigt, bis er es so souverän beherrschte, dass in seinen Bildern nichts mehr von der Mühsal und den Umwegen der Technik zu spüren ist.

Nun bot sich mit den Zinkplatten ein neues Feld technischer und formaler Erkundungen. Die ersten Blätter, eben jene Seiten für den Katalog, zeigen neben guten Ergebnissen auch einige Unsicherheiten: Zu malerisch breitflächig angelegte Arbeiten verloren im Druckvorgang ihre Nuancierung und damit ihren Charakter. Aber Grochowiak hat daraus gelernt. Es trieb ihn, weiter zu experimentieren und er entdeckte die Möglichkeiten des lithographischen Umdruckverfahrens für sich. Es bedurfte kaum eines Umdenkens, keiner Umstellung der Handschrift auf die graphische Technik, nur eines Einstellens auf die neue, sämigere Tinte. Längst hatte er den Ausdruckswert graphischer Elemente als bildnerisches Mittel erkannt und durchprobt; auch der Modulationsreichtum des Schwarz war ihm aus Erfahrung geläufig und nun stellte er fest, dass sich auch in der neuen Technik die gleichen Variationsmöglichkeiten boten. Es ist bedauerlich, dass die Reihe der druckgraphischen Arbeiten – es entstanden etwa ein Dutzend Blätter! – nach so kurzer Zeit, nach einem jähen, begeisterten Aufschwung schon wieder auslief. Wohl entstanden in der Folge einige Schwarz-Weiß-Arbeiten, in denen der vorwiegend graphische Charakter beibehalten wird: Rhythmische Arabesken aus wenigen prägnant gesetzten knorrigen Linien und Kreisen, oder andere, auf denen sich ein nervöses scripturales Spiel über die ganze Fläche breitet: Strichbündel stehen hier gegen die Melodie einer einzelnen, frei in den Raum schwingenden sensiblen Linie, tiefschwarze Punkte und Flecken gegen weiche, tonige Flächen.

Fast konträr zu diesen graphischen Arbeiten steht die zweite Bildgruppe dieser Periode: Bilder, die geprägt sind durch große, schwere, geschlossene Formen. Da breiten sich wie weitgespannte Flügel zwei intensive Blauformen aus (Ikarus); da schließen sich die deutlich ablesbaren Komplexe aus Weinrot, Grün, Gelb und Dunkelblau zu einem Rechteck zusammen (»Ruhe und Aktion«), oder da entsteht aus einer trapezförmigen Rotfläche und grünem Oval die skurrile Form eines »erregten Idols«. Wie immer geht es auch in diesen Bildern um das Spannungsverhältnis Ruhe und Aktion. Das Element der Ruhe tritt hier als kompakte, fest umrissene Farbfläche auf, Aktion vollzieht sich in bemerkenswerter Einhelligkeit bei all’ diesen Bildern, als Durchzug durch die Mitte. Bewegungselemente bahnen sich ihren Weg quer durch das Bild. Sie durchstoßen die Einheit der großen Grundform, sie trennen und sie verbinden. Sie trennen, indem sie einen dichten schwarzen Gürtel legen aus nervös ausspritzenden Strichen, aus massiven Tupfen oder aus engverflochtenen schwarzen Kringeln. Sie verbinden, indem sie ausstrahlen und mit einzelnen Elementen dieses Bewegungsmotivs in die Farbflächen vordringen. Wie schon häufig kann auch hier ein Bildtitel stellvertretend und wegweisend für die ganze Gruppe stehen: »Koloss« bezeichnet die sonst ungewohnte, formale und farbige Massivität und Schwere dieser Reihe.

Was seit 1962 bis zum heutigen Tage entstand und entsteht, lässt sich wieder mit einem Bildtitel benennen, als die Reihe der »Balken und Flecken«. Balken verschiedener Länge und Breite freischwebend im Raum. Balken in die verschiedensten Richtungen strebend, nicht mehr parallel verlaufend wie in der Reihe der »Flächen und Zeichen« von 1958. Schwarze Balken, rhythmisch einander zugeordnet oder dynamisch gegeneinanderstoßend, sich gegenseitig durchbohrend. Balken der verschiedensten Konsistenz: Kompakte Balkenstücke neben solchen, bei denen die Materie in Auflösung begriffen scheint mit ausgefransten, absplitternden Quer-Enden, die Oberfläche ausgebrochen, ausgelaugt. Und hier erweist sich das Schwarz nicht nur als Farbton, sondern als Materie, als stoffliche Substanz, als Träger und Vermittler fast illusionistischer Dinghaftigkeit. Wie hier das Schwarz aufgerissen, angefressen, bis zur Farblosigkeit ausgewaschen wird, wie die Balken durch diese farbige Behandlung »leicht« werden, daran erlebt man, wie »Schwere schwebend wird«. Zwischen, neben und unter diesen vergehenden Schwarzformen – oft nur noch Ahnung eines Balkens! – treiben blaue, gelbe und rosa Farbwölkchen dahin: Runde, ovale, längliche, große und kleine Flecken, aneinander vorbeisegelnd, sich gelegentlich berührend, überschneidend, die Schwarzformen unterwandernd, einander wie in fröhlichem Tanze begegnend. Aber schon im nächsten Bild ein jäher Umschlag: Aus unbeschwert heiterem Spiel herausgerissen, sehen wir uns dunkler Bedrohlichkeit konfrontiert, werden hineingezogen in das Brodeln schwarzer Wirbel, übereinander gelagerter Balken, geballter, schwerer Farbkomplexe, explosiver Formelemente. Immer aber, ob heiter oder bedrohlich, erweist sich, was wie Zufall aussehen könnte, als wohldurchdachte Choreographie, als eine Harmonisierung der Fläche mit rhythmischer Gliederung der Formen und ausgewogener Verteilung der farbigen Akzente.

Ein langer Weg ist zurückgelegt von den ersten tastenden Versuchen der Nachkriegszeit bis zu dieser Sicherheit im Formalen, dieser souveränen Beherrschung der bildnerischen Mittel. Anerkennung und Erfolg blieben nicht aus. Seit Thomas Grochowiak über die ersten schweren Jahre der Gruppe »junger westen« klagend schrieb: »Keine Galerie, die sich kümmerte, kein Museum, das uns nahm,« hat sich vieles geändert Seine Bilder hängen in verschiedenen deutschen Museen und in bedeutenden Privatsammlungen; Einzelausstellungen und Teilnahme an zahlreichen Ausstellungen des In- und Auslandes; Mitglied des deutschen Künstlerbundes und anderer Künstlervereinigungen. Mit dem Eintritt in die Öffentlichkeit, dem »Sich-Stellen« in zahlreichen Ausstellungen begann für Kunsttheoretiker und Kritiker die Frage nach der »Einordnung« Grochowiaks, nach eventuellen Einflüssen und Anregungen. Und siehe da: er ließ sich nicht einordnen. Keiner der vielen »Ismen« der zeitgenössischen Kunst, weder Tachismus, noch Konstruktivismus, weder action painting, noch irgendeine der sensationellen Kunsterfindungen der Gegenwart trifft auf seine Bildwelt zu. Auch nicht Einflüsse einzelner Künstler, keine Vor- und Leitbilder. Was immer wieder anklingt, eine Nähe zur Kunstwelt Ostasiens, ist weniger direkter Einfluss, als eine Art Wahl- und Geistesverwandtschaft. War bei Sam Francis das Überwiegen der unbemalten Fläche das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Welt – für die das Aussparen Stilprinzip ist – so kommt bei Grochowiak weder die Kalligraphie seiner Handschrift, noch die betonte Einbeziehung der Grundfläche in die Komposition aus einem bewussten Studium der ostasiatischen Kunst, sondern aus Intuition. Anregungen für seine Bildideen allerdings fließen ihm von überall zu: Ob er nun mit absichtsloser Neugier durch die Straßen oder durch die freie Natur schlendert und sein wacher Blick Dinge entdeckt, an denen andere vorübergehen: eine abblätternde Haus- oder Plakatwand, eine bizarre Wurzel, die Maserung eines Steines oder auch nur ein vergilbtes Stückchen Papier; ob er mit der ihm eigenen lebendigen Teilnahme große und kleine Tagesereignisse erlebt: sei es die erste bemannte Weltraumrakete oder sei es eine Viertelstunde in einem Pariser Café; ob er genießend und kritisch zugleich Musik hört, Lyrik liest, einen Abend im Theater oder einen Nachmittag im Atelier eines Künstlers verbringt; ob er von menschlichen Begegnungen bewegt oder erregt ist – all' das kann Ausgangspunkt, Anstoß, Anregung für neue Bilder werden, kann sich in Malerei umsetzen und uns begegnen als »ein Schrei in der Nacht, ein verhaltenes Schluchzen, ein Lächeln« (George Rouault).

Wenn wir rückblickend den künstlerischen Weg Grochowiaks verfolgen, so führt er bemerkenswert kontinuierlich zu den heutigen Arbeiten: Nirgends ein jäher Sprung, kein gewaltsamer Neuansatz. Das ist erstaunlich, weil der Arbeitsrhythmus keineswegs stetig verläuft, sondern sprunghaft, schubweise. Nach manchmal kurzen, oft recht langen Pausen künstlerischen Tuns setzt ein wahrer Schaffensrausch ein und in einem einzigartigen, nicht zu dämmenden Überfließen entlädt sich, was sich in den Zwischenzeiten an Form- und Farbgut angestaut hat. Es sind dann meistens die Nächte, lange, einsame Stunden der Ruhe und des Schweigens der Umwelt, in denen die Bilder entstehen. Es liegt kein bestimmter Rhythmus in diesem Auf und Ab, und dem Außenstehenden bleiben Anlass und Triebkraft des Einsetzens und Endens dieser Schaffensperioden verschlossen. Denn Grochowiaks Tätigkeit als Direktor der Städtischen Museen Recklinghausen, sein Doppelberuf also, mag zwar zu dieser periodischen Arbeitsweise beitragen, ist aber nicht deren eigentliche Ursache.

Es gab Zeiten, in denen es keineswegs ungewöhnlich war, dass die Obhut von Sammlungen, Galerien und Museen bildenden Künstlern anvertraut war. Von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert haben sich Maler, Bildhauer und Architekten um die Pflege und den Ausbau zahlreicher Sammlungen verdient gemacht. Seit jedoch die Kunstgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts als eigener wissenschaftlicher Zweig ausgebaut wurde, trat allmählich – vor allem in Deutschland – der Wissenschaftler in der Leitung der Museen an die Stelle der bildenden Künstler und gebildeten Laien. So erregte es 1954, als Thomas Grochowiak die Leitung der Städtischen Museen Recklinghausen übernahm, Aufsehen und Erstaunen, dass ein Maler und nicht ein Historiker mit dieser Aufgabe betraut wurde, denn vergessen war, dass malende Museumsleiter bzw. Museen leitende Maler auf eine sehr alte und oft bewährte Tradition zurückblicken können.

1948 hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Stadt Recklinghausen eine »Gesellschaft zur Durchführung der Ruhrfestspiele« gegründet. Die Idee dieser Festspiele war aus der Not der ersten Nachkriegsjahre erwachsen. 1946 hatte eine Vertretung der Hamburger Bühnen bei der Zeche Ewald König Ludwig in Recklinghausen um Kohlen gebeten. Durch die spontane Hilfsaktion der Bergleute konnte vermieden werden, dass die Theater in Hamburg wegen Kohlenmangels schließen mussten. Ein Jahr später kamen die Hamburger Bühnen nach Recklinghausen und statteten den Bergleuten durch Gastspiele ihren Dank ab. Aus dieser Aktion »Kohle für Kunst – Kunst für Kohle« erwuchs das einzigartige Werk der Ruhrfestspiele. 1948 hatte Thomas Grochowiak deren Initiator und Leiter Otto Burrmeister kennen gelernt und ihm seine Idee vorgetragen, das Programm der Festspiele durch Kunstausstellungen zu erweitern. Grochowiaks Initiative ist es zu verdanken, dass durch den Umbau eines Luftschutzbunkers Ausstellungsräume geschaffen wurden, in denen 1950 die erste Kunstausstellung der Ruhrfestspiele stattfinden konnte. Grochowiaks lebendiges Interesse für alle Bereiche der Kunst, seine wache Aufmerksamkeit in politischen Fragen, seine unermüdliche und selbstlose Einsatzbereitschaft, ließen ihn über sein Sachgebiet, die Leitung und Gestaltung der Ruhrfestspielausstellungen hinaus, zu einem vertrauten Mitarbeiter Otto Burrmeisters in der künstlerischen Gesamtleitung der Ruhrfestspiele werden.

»Galerien und Museen, zu denen nichts hinzugefügt wird, haben etwas Grab- und Gespensterartiges ... anstatt dass man erinnert werden sollte, dass in der Kunst wie im Leben nichts Abgeschlossenes beharre, sondern ein Unendliches in Bewegung sei«, schrieb Goethe im Jahre 1805 und seither ist der Ruf nach dem »Lebendigen Museum« nicht verstummt. Seit der ersten Ruhrfestspielausstellung 1950 ist die Kunsthalle Recklinghausen im Gespräch geblieben. Sie wurde zu einem Ort der Begegnung für junge Künstler, sie stand im Zentrum der Auseinandersetzung und der Diskussion um die moderne Kunst. Sie wurde bekannt durch neuartige undoktrinäre Ausstellungen. Ausstellungen, die durch Thema und Gestaltung von der Konvention abwichen, Ausstellungen, die den traditionsbewußten Historiker zunächst schockierten durch den Mut und die scheinbare Unbekümmertheit, mit der hier Kunstwerke aller Zeiten und Länder unmittelbar konfrontiert wurden. Konfrontation jedoch nie aus Sensationslust, sondern immer und in jedem Fall als Dienst am Kunstwerk! Ausstellungen, in denen Grochowiak mit seinem sicheren Instinkt für künstlerische Probleme und Tendenzen jeweils genau die augenblickliche Kunstsituation traf, Ausstellungen, mit denen er durch Frage und Antwort in die Zeit hineinwirkte und wirkt. Durch diese Wirkungsmacht, durch die Trugkraft seiner Ideen – keineswegs allein durch seine viel bewunderte Aktivität – verwirklichte er in Recklinghausen »das lebendige Museum«.

Mit der Gründung des Ikonenmuseums 1956 schuf er darüber hinaus einen Zufluchtsort im Geiste Wilhelm von Humboldts: »Es ist wichtig, dass es einen sicheren, allgemeinen und immer freundlichen Zufluchtsort für Melancholie und Nachdenken, für Schwärmerei und Gleichgültigkeit an der Welt, für stilles Glück und tiefes Unglück, für Wissenschaft und Kunst gebe.« Auch hier hatte Grochowiak mit intuitivem Spürsinn erkannt, dass die Welt der Ikonen eine religiöse und künstlerische Faszination auf den modernen Betrachter ausüben würde. Unterstützt von Stadtverwaltung und Landesregierung erfüllte er mit der Gründung und dem künstlerischen und wissenschaftlichen Ausbau des Ikonenmuseums eine der Forderungen, die Hans Kauffmann in seiner denkwürdigen Rede in Düsseldorf 1957 aufgestellt hatte. Er schuf eine für Westeuropa einmalige und einzigartige Möglichkeit der Begegnung mit ostkirchlicher Kunst und trug durch diesen »Denkmälerschatz und von seinem Arbeitskreis aus bei, zu dem nie endenden um den Erdball gehenden Gespräch.«

»Ideen zu haben, ist nicht nur den Künstlern eigen« schrieb Thomas Grochowiak einmal. Und doch scheint mir die Quelle für die Fülle seiner Ideen und den unerschöpflichen Reichtum seiner Phantasie, die ihn als Museumsleiter auszeichnen, in seinem Künstlertum zu liegen. Auch auf anderem Gebiet ergänzt der Maler Grochowiak den Museumsmann auf das Glücklichste: In der sehr individuellen Art der Ausstellungsgestaltung; in der gekonnten Typographie der Museumspublikationen; in den stets selbst entworfenen künstlerischen und zugleich werbewirksamen Plakaten. Zu den vielfachen Aufgaben aus Beruf und Berufung als Maler, als Museumsdirektor, als Mitarbeiter in der Leitung der Ruhrfestspiele kommt noch ein weiteres Tätigkeitsfeld hinzu, das Grochowiaks Vielgleisigkeit dokumentiert; das des Autors. Zahlreiche Aufsätze in Katalogen und Zeitschriften, Mitarbeit in der Rundfunksendereihe »Wir sehen Kunst« und neuerdings die umfassende Monographie über Ludwig Meidner.

Über sein eigenes Schaffen allerdings gibt es keine schriftlichen Äußerungen, keine Theorien, keine Bekenntnisse. Seine Aussage und sein Bekenntnis ist die Welt seiner Bilder. Aber hie und da klingt in Texten, die er anderen Künstlern gewidmet hat, etwas an, was an Interpretationen seines eigenen Wollens und Tuns erinnert: »Was uns immer wieder bei Skizzen fasziniert, ist die Unmittelbarkeit der Niederschrift, es ist das Offenlassen eines endgültigen Zustandes, das uns reizt und in Versuchung bringt, auf unsere Weise das Angedeutete, scheinbar nicht Vollendete, auf eine Lösung hin weiterzudenken. Es ist aber auch die Schwerelosigkeit, die z. B. in den Skizzen von Tiepolo empfunden wird oder bei späten Landschaften und Figurenbildern Cézannes, die durch ihre teils bemalten, teils stehengelassenen Stellen der weißen Leinwand in einen merkwürdigen Zustand der Schwebe geraten. Hier, bei Cézanne, sind wir der Malerei unserer Generation ganz nahegerückt, in der das Fragmentarische, das nicht zu Ende gemalte, Gestaltungsprinzip geworden ist; wo die Spannungen zwischen den bemalten und den unbearbeiteten Flächen und die Rhythmen, die ein Bild zum Vibrieren bringen, den Schaffensprozess des Malers weitgehend bestimmten.« (Thomas Grochowiak im Katalog der Ausstellung »Torso«, Ruhrfestspiele 1964.)

»Schwerelosigkeit und Schweben«, »Spannungsverhältnis zwischen bemalter und unbearbeiteter Fläche«, »Rhythmen, die ein Bild zum Vibrieren bringen« sind dies nicht die formalen Grundprinzipien, aus denen Grochowiaks Bildwelt erwächst? Und ebenso das »Offenlassen«, das »Andeuten«! Hier allerdings reichen die Worte über formale Umschreibung hinaus: das skizzenhaft Flüchtige der spontanen Niederschrift ist nur Mittel für einen Hinweis höherer Ordnung. Denn diese Malerei ist weit davon entfernt, bloßer Formalismus, Dekoration, ästhetische Befriedigung zu sein. Sie entsteht aus einem Zustand, der »mit Wachheit die Signale unserer ach so erregenden Welt beobachtet und darauf reagiert«, der nach den adäquaten künstlerischen Mitteln sucht, um »gültige Signaturen zu schreiben« (Thomas Grochowiak). Signaturen, die »Welt« zeigen, »Welt« öffnen, »Welt« bilden. Welt in ihrer Komplexheit: Makro- und Mikrokosmos: dauernder Wandel und ewig Unveränderliches: Welt, bedroht und bedrohend, hoffend und Hoffnung verheißend, Welt, voll Freud und Leid. »Reaktion auf die Signale unserer Welt«, hier also nicht als direkte Antwort auf bestimmte Tagesereignisse zu verstehen, kein Handeln und Wirken unmittelbar in die Zeit hinein, sondern Reaktion auf einen weit umfassenderen Zustand.

»Die Welt ist locker geworden«, schreibt Albert Schulze Vellinghausen dem Freund zu seinem 50. Geburtstag. »Nach allen Seiten hin hält sie uns früherhin ungeahnte Durchblicke offen: »in« die Materie, durch die Materie, hinter die Materie. Das ist als pure Tatsache wahrlich kein Grund zu kopflosem Optimismus. Aber es kennzeichnet eine vollkommen neue Situation – neuer Gefahren, aber auch neuer Fähigkeiten. Bringt sie den Untergang, bringt sie einen neuen »Modus vivendi«? Die Kunst spürt, sieht und zeigt beides; sie bringt kein Abbild, aber Erkenntnis. Seit mehreren Jahren tasten und zielen Grochowiaks Bilder dahin, uns das »Durchbrochene« als Situation, zur Erkenntnis zu machen. Man könnte das geometrisch versuchen, durch serielle Reihung zahlloser Pünktchen (wie das heute wieder die OP ART der Gruppen Zero, »n« oder Null unternimmt) oder man könnte, wie gestern die POP ART, durchbrochene Dinge, Schwämme, Siebe, neben- und übereinander montieren. Grochowiak – das ist höchst sympathisch – verspricht sich nicht viel von der Flucht in die Aufwendigkeit einer neuen Materie. Er bleibt bei der Fläche und bei der Farbe. Auch mit diesen einfachen, schlichten, gebräuchlichen Mitteln (die sich der Welt dadurch bemächtigen, dass sie sie in einem geistigen Akt in die Sprache des Widerscheins übersetzen) lässt sich das ganze Phänomen des »Durchbrochenen« heraufbeschwören, ohne in Eindeutigkeit zu verfallen. Was in unseren Tagen dem Maler Morandi gelungen ist – dem Profil und der flächigen Silhouette Vieldeutigkeit abzugewinnen – gelingt, innerhalb seines eigenen Kraftfelds, auch dem Maler Grochowiak. Seine Blätter umfassen die ganze Komplexheit: sowohl die Bedrohlichkeit schwarzer Wirbel und dunkler, quirlender Wolkenbäume, wie andererseits die Möglichkeit heiterer Auflichtung. Wird das Schwarz hier vom schwefligen Gelb beiseite gedrängt, so strahlt dort ein silbrig geistreiches Blau hervor. Alles ist in Verwandlung begriffen, zum Schlimmen und zum Schönen hin. Keines der Bilder behauptet unangemessene Stabilität. Ihre Faszination besteht ganz im Gegenteil darin, dass sie – wie Visionen – über unseren Alltag aufleuchten und weiterziehen ...«

»Visionen«, aufleuchtend und weiterziehend, andeutend und offen lassend! Offen bleibt, was wir aus diesen Visionen machen, wie weit unsere Phantasie sie trägt, wo ihr Flug enden wird. Wir setzen die Grenzpfähle: im Unendlichen oder im Endlichen. Ein jeder setzt sie für sich allein im Umkreis seiner Reichweite, seiner Bereitschaft. Wir bestimmen und erkennen unseren geometrischen Ort an der Wegstrecke, die wir den Künstler auf seinem »abenteuerlichen Pilgerpfad« begleiten können, an dem er mit seinen Bildern »Wegzeichen im Unbekannten« setzt.

Der Weg Thomas Grochowiaks ist lange nicht zu Ende. Während diese Zeilen geschrieben werden, entstehen neue Bilder und weitere werden entstehen. Wohin sie uns führen – wer kann das wissen? Denn was Thomas Grochowiak über die Gruppe »junger westen« sagt, gilt auch für ihn selbst: »Alle bleiben unterwegs, wollen sich nicht festlegen lassen, erkunden weiterhin das Ungewisse, wagen Vorstöße ins Unbekannte ...«

Monographien zur rheinisch-westfälischen Kunst der Gegenwart, Band 33,
1967 Verlag Aurel Bongers, Recklinghausen