Dr. Heinrich Hahne

Orphisch

Blick auf Thomas Grochowiak

Selbst in den Künsten, die sich die freien nennen, sind es Einkommen und Fortkommen, Reputation und nicht zuletzt die Magie der Riten, die oft genug die Sache selbst und ihre Freiheit überwuchern. Davon ist vorweg zu sprechen, wenn von Thomas Grochowiak gesprochen werden soll. Und das nicht, weil auch er sich, sondern weil er sich gerade nicht, obwohl bewusst engagiert, der Sucht und dem Sog des Betriebs überlässt. Zwar hatte er zeit seines Lebens alle Hände voll zu tun, jedoch weniger mit der eigenen als mit der Kunst anderer; er tat es weder mit der Hektik eines »Machers« noch der Gelassenheit eines Kunstfunktionärs. Dabei ist seine eigene Kunst nicht in dem Maße ins öffentliche Bewusstsein getreten, wie es ihr zukäme.

So war vor allem in den schwierigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehr von der originellen Vielfalt seiner Ausstellungen, die er während der Ruhrfestspiele in Recklinghausen einrichtete, als von ihm, dem Maler, die Rede; er hat über fast zwei Jahrzehnte hin darauf verzichtet, seine eigenen Bilder in einem größeren Rahmen zu zeigen. Auch als Organisator war er nie nur ein Routinier. Er sah in den Festspielen eine umfassende, produktive Aufgabe, die über ihren unmittelbaren Anlass hinaus weiterwirken sollte. Als jedoch die Gewerkschaften versuchten, einen Gruppen- oder gar Klassenüberbau in Szene zu setzen, trennten sich die Wege; denn für Thomas Grochowiak ist und bleibt die offene Eigenständigkeit der Kunst eine Grundbedingung von Kultur überhaupt. Als Künstler und nicht als Ideologe hat er das Öffentliche gefördert. Für die Breite seines Interesses, sofern es sich jeweils um anspruchsvolle Unternehmungen handelte, ist auch seine Gründung des Ikonenmuseums in Recklinghausen (1956) aufschlussreich.

Thomas Grochowiak wurde am 2. Dezember 1914 als Sohn eines Bergmanns in Recklinghausen geboren. Natürlich spielte eine zweckgebundene Ausbildung für ihn eine zukunftsträchtige Rolle. Bereits dicht an seiner späteren Lebensaufgabe, machte er eine Lehre als Werbegraphiker und besuchte gleichzeitig die Werkkunstschule in Dortmund. Von Anfang bis zum Ende des Krieges war er Soldat.

Dass auch er vor dem Krieg noch nicht seine spätere, unverwechselbare Handschrift gefunden hatte, beweisen die tastenden Versuche, in denen er sich, wie die meisten seiner Generation, vor allem mit französischen Einflüssen auseinandersetzte. Bereits um 1954 konnte er einen bemerkenswerten Bestand gesicherter Arbeiten ausstellen.

Eine äußere Wende brachte für ihn das Jahr 1948, als er mit Gustav Deppe, mit Emil Schumacher, Heinrich Siepmann und Hans Werdehausen die Gruppe »junger westen« gründete. Nicht nur aus einem Gespür für schöpferische Kräfte, für neue Themen und Perspektiven; auch aus dem anspruchsvollen Bedürfnis, durch neue Organisationen und Gesichtspunkte vorgegebene Werke zu Auseinandersetzungen zu reizen und ihre Reichweite zu erproben, stellte er sich über die Bundesrepublik hinaus für öffentliche Aufgaben zur Verfügung. Aus der Vorgegebenheit einer humanen, zwanglosen Zuwendung zur Welt konnte er sich in einer gewachsenen Selbstsicherheit seine förderliche Mitmenschlichkeit leisten. Viele haben sie hingenommen, als wäre es selbstverständlich, und nicht einmal unter den Geförderten ist mit wünschenswerter Klarheit erkannt und anerkannt worden, was sie ihm zu verdanken hatten.

Auf großen Ausstellungen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland als Maler und später als Präsident des Deutschen Künstlerbundes pflegte er also die schöpferischen Beziehungen in dieser Zeit. Neben dem Großen Bundesverdienstkreuz wurde ihm der Professorentitel verliehen. Zu seinem siebzigsten Geburtstag veranstaltete das Märkische Museum der Stadt Witten eine Retrospektive, deren rund zweihundert Arbeiten einen aufschlussreichen Überblick über die künstlerischen Tendenzen eines schöpferischen Lebens erlaubten.

Auch Thomas Grochowiak hat realistisch-gegenständlich begonnen und alltägliche Dinge in ihrer scheinbaren Beliebigkeit dargestellt. Da gibt es schon bald frühe Pflanzenmotive, die auf den konstruktiven Realismus Picassos hinweisen, dann surreale Traumvorgänge, die sich in Erscheinung und Bewegung der submarinen Urwelt annähern, und um 1950 technische Experimentierfelder, die nun das Organische zum Frommen mechanisch-künstlicher Anspielungen vernachlässigen. Um 1960 werden auch sie überwunden, indem der Maler, wie es scheint, an eine »Etüde« von 1932 anknüpft, damit auf Assoziationen an natürliche und künstliche Gebilde verzichtet und in freien Vorstellungen von der Autonomie des Künstlerischen Gebrauch macht.

Diese Konzeption hat sich mit interessanten Abwandlungen bis in die jüngste Zeit bewährt. Eine phantasievolle Freizügigkeit, nur scheinbar intuitiv, im Grunde aber aus dem Einvernehmen ursprünglicher Entsprechungen geordnet; frei sowohl vom Gestaltigen des Gewordenen wie von der Geradlinigkeit des künstlich Gemachten; gesteuert aus einem intensiven und vielseitigen Energiezentrum; frei schwebend also, transparent und offen für neue Erfahrungen, könnte diese Kunst über sich selbst hinaus auch zu einem Orientierungsbereich für Nachfolger werden. Denn wenn seit über zweihundert Jahren in der deutschen Tradition das Heftige, Sperrige, das Spröde oder Expressive, wie man zu sagen pflegt, fast schon zum deutschen Kunststil erklärt wird und in unreflektierter Einseitigkeit sowohl die Kunstpraxis wie die Kunstbeurteilung bestimmt, so käme schon deswegen einer Malerei im Sinne Grochowiaks eine stärkere Beachtung zu, weil sie dem Zweckfreien einen größeren, angemesseneren Raum gewährt, einen Raum, in dem Erkenntnis mehr als Bekenntnis und Phantasie höher geschätzt wird als das, was man die Realität nennt. Nichts gegen emphatische Ansprüche und schon gar nichts gegen Wirklichkeit und Wahrheit; aber ihr Gegenteil ist nicht immer Irrtum oder Traum. Die Kunst Grochowiaks hat ihre Wahrheit in sich und durch sich selbst. Die Erscheinung ihrer Autonomie ist die Schönheit und ihr Kriterium der Geschmack. Beide werden nicht gewonnen oder zugeteilt, sondern geübt und gefestigt.

Durch die Jahrtausende hin hat die bildende Kunst vom Vorbild des Tugendfälligen gelebt. Indem sie schilderte, was sie sah oder zu sehen glaubte, hat sie die Erdenschwere mit ins Spiel gebracht. Doch einige haben auch dargestellt, was sie hörten oder vernahmen, das Melodische oder Musikalische ist die innere Ordnung ihrer Bilder. Solche Bilder werden vielleicht gesungen, gespielt oder mit einem imaginären Orchester musiziert. In ihrer natürlichen Leichtigkeit schweben sie auf der Grenze zwischen dem noch Gegenwärtigen und dem schon Vergangenen. Als eine Kunst der Zeitlichkeit verleugnen sie nicht jene heitere Schwermut, die im Bewusstsein der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit alles Zeitlichen mitwirkt. Man versteht, warum Grochowiak, ein Maler von dieser Art, die Farben nicht isoliert, nicht einmal auf Grundtöne konzentriert. Insofern er sie in Wechselbeziehungen organisiert, scheint es, als würden sie zu polyphonen Klängen einer dichten Komposition. Das ist nicht eben eine »Symphonie der Farben«, wohl aber ein kammermusikalisches Divertimento, das, wenngleich zu höherer Unterhaltung, die Maße einer zwanglosen Verfügung respektiert.

Doch sollte man es auch nicht überschätzen, wenn Thomas Grochowiak vor seinen Bildern, nicht nur bildlich, sondern direkt von der Musik und ihren Anregungen spricht und auf den Bestand von Bandaufnahmen hinweist, die ihn beim Malen anregen. Gewiss kann man auf die innere Verwandtschaft der Künste vertrauen, wenn man sie gleichsam gegeneinander ausspielt; doch einerseits sind ihnen, und unter ihnen vor allem den Zeit- und Raumkünsten, also der Malerei und der Musik, Wesensgrenzen gezogen; andererseits (und darauf kommt es hier an) gibt es die schwebende Malerei eines Grochowiak-Aquarells und die innere Schwere eines romantischen Adagios. Musik und Bild würden schwerlich miteinander konzertieren. Dennoch kann man von der Musikalität bestimmter Farbgeflechte sprechen, vielleicht von ihrer fast entmaterialisierten Schwerelosigkeit wie von der sinnfreien Ordnung des Klangs und des rhythmischen Gleichschritts im Zwanglos-Regelhaften. »Alles will schweben«, was Orpheus berührt, sagt Rilke von Orpheus, dem singenden Gott. Vielleicht hat auch Thomas Grochowiak eine orphische Kunst im Sinn, klingend wie der Klang der Reime und rhythmisch wie der Gang ihrer Verse.

Aus der Zeitschrift:
Weltkunst, Aktuelle Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten
57. Jahrgang, Nummer 20
München, 15. Oktober 1987